Zwischen Rassismus und Empowerment – Antworten aus der Realität auf Fragen zu einem Ressentiment und Gewalt: Einleitung
Die Leipziger Autoritarismus-Studie legt jährlich eine große Vielzahl autoritärer und menschenverachtender Einstellungen dar. Sie zeigt die Vorurteile der Einzelnen in Zahlen. Doch was bedeuten diese Zahlen? Was bilden sie nicht ab?
Wir gehen auf die Fragen und Ergebnisse der Studie in puncto Antiromaismus (Rassismus gegen Sint:ezze und Rom:nja) mit zweierlei ein: Zum einen stellen wir ihr die Realität der Migrationsgesellschaft und die vielfältigen Lebenssituationen von Rom:nja und Sint:ezze gegenüber. Zum anderen erweitern wir den Blick von den Einstellungen einzelner auf die strukturelle Ebene des Antiromaismus und gehen auf eine Gesellschaft ein, die divers aber auch strukturell rassistisch ist. Statt zu fragen, wieviele Personen Rom:nja und Sint:ezze ablehnen, stellen wir in den Mittelpunkt, welche Auswirkungen Antiromaismus hat.
Zuerst geben wir einen Überblick zum Leben von Sint:ezze und Rom:nja in Deutschland und eine Definition von Antiromaismus (Teil 1). Dann gehen wir auf die drei antiromaistischen Aussagen in der Studie ein: Rom:nja seien kriminell, sie sollten aus den Innenstädten verbannt werden und man habe ein Problem, wenn sich Rom:nja und Sint:ezze in der eigenen Gegend aufhielten (Teil 2-4).
Die Vorstellung, Sint:ezze und Rom:nja seien kriminell, kontrastieren wir mit den vielfältigen Arbeits- und Ausbildungsverhältnisse sowie den diversen Berufen der Minderheit. Das Ressentiment der »Nicht-Arbeit«, das sich in Bildern von Faulheit oder eben Kriminalität zeigt, hat Auswirkungen auf das Leben von Romn:ja: Wir zeigen das an struktureller Diskriminierung und rassistischer Ausbeutung auf dem Arbeitsmarkt und in der Ausbildung. (Teil 2)
Die Frage, ob Sint:ezze und Rom:nja aus den Innenstädten verbannt werden sollen, kontern wir, indem wir die Normalität einer Innenstadtszene darlegen. Rom:nja und Sint:ezze werden in Städten oft nur als Kriminelle oder Bettler:innen wahrgenommen. Strukturell folgen daraus rassistische Polizeikontrollen und Bettelverbote. (Teil 3)
Die Studie stellt auch die Frage, ob Rom:nja und Sint:ezze sich gerne in der Nähe der Befragten aufhalten dürften. Wir beziehen das vor allem auf direkte Nachbarschaft. Hier zeigt sich die Realität der Migrationsgesellschaft vor allem in den zahlreichen freundschaftlichen nachbarschaftlichen Beziehungen. Antiromaismus unterstellt Unordnung und fehlende Sesshaftigkeit. Rassismus auf dem Wohnungsmarkt ist eine Folge, die wiederum mit den ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen eng zusammenhängt. (Teil 4)
Die Gewalt gegen Sint:ezze und Rom:nja ist eine Folge der individuellen Einstellungsmuster aber auch der strukturellen Diskriminierung. Die Gewalt richtet sich oft gegen Gruppen oder ganze Wohnhäuser – sie spiegelt die Tödlichkeit dieses Ressentiments wider. (Teil 5)
Wie gehen aber Sint:ezze und Rom:nja mit dieser Realität um – der Normalität einer Migrationsgesellschaft und der Normalität struktureller Diskriminerung? (Teil 6) Ihre Strategien sind so vielfältig wie die Personen selbst und reichen von Selbstverleugnung über kulturelles Engagement bis zu politischer Organisierung.
»Roma« soll kein Synonym für Armut, Kriminalität und Negatives mehr sein. Dies zu stärken, ist auch ein Ziel dieses Textes.
1. Wer sind Rom:nja und Sint:ezze?
Was ist Antiromaismus?
In Europa leben 10 bis 12 Millionen Rom:nja und Sint:ezze. Aber als Rom:nja wahrgenommen werden nur die, die in das Klischeebild der Mehrheitsbevölkerung passen. Dabei leben Rom:nja vielfältig wie andere Bevölkerungsgruppen auch: Sie leben in Städten und auf dem Land in Nord-, West-, Mittel-, Süd- und Osteuropa.
In Deutschland leben Angehörige der Minderheit unter unterschiedlichen rechtlichen Voraussetzungen. Daher sind auch ihre Lebensrealitäten sehr verschieden. Sint:ezze leben seit ca. 600 Jahren im deutschsprachigen Raum. Zweihundert Jahre später folgten Rom:nja. Beide besitzen deutsche Pässe und sind als nationale Minderheiten anerkannt. Es leben auch Rom:nja aus dem ehemaligen Jugoslawien in Deutschland, die als sogenannte Gastarbeiter:innen in den 1970er Jahren in die BRD kamen, EU-Bürger:innen aus Rumänien und Bulgarien sowie Asylsuchende aus den Teilrepubliken des ehemaligen Jugoslawiens und dem westlichen Balkan. Allen schlägt Rassismus entgegen, Antiromaismus ist der spezifische Rassismus gegenüber Rom:nja und Sint:ezze.
Rom:nja haben sehr unterschiedliche Lebensrealitäten. Dennoch leben überdurchschnittlich viele Rom:nja in großer Armut. Das liegt an jahrhundertealter systematischer Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung. Die Diskriminierung hält bis heute an: im Bildungsbereich, auf dem Arbeitsmarkt, bei der Polizei. Alle diese Bereiche haben miteinander zu tun und können einander verstärken. In einigen Ländern spricht man daher von »existenzbedrohender Diskriminierung«, die in Deutschland allerdings nicht als Fluchtgrund anerkannt wird (vgl. Lazarević, 2017).
Antiromaismus
Unter Antiromaismus verstehen wir Ideologien, Handeln bis hin zu Gewalt und institutionellen Rassismus gegen Rom:nja und Sint:ezze. Häufig wird auch der Begriff Antiziganismus verwendet, der aber den Begriff »Zigeuner« zitiert, der »von den meisten Angehörigen der Minderheit als diskriminierend abgelehnt wird – so haben sich die Sinti und Roma nämlich niemals selbst genannt.« (Zentralrat Deutscher Sinti und Roma 2015) Einige Roma-Selbstorganisationen verwenden auch den Begriff »Gadje-Rassismus«. Gadje heißt auf Romanes »Nicht-Roma«. Der Begriff lenkt den Fokus somit auf die Dominanzgesellschaft und ihren Rassismus, weg von den Rom:nja und Sint:ezze – denn mit ihrer Lebensrealität haben die Vorurteile »schlicht nichts gemein« (ebd.).
Jeder Rassismus transformiert und modernisiert sich: Im Neoliberalismus gilt für alle Menschen der Zwang zur Selbstverantwortung und Selbstverwertung. Rom:nja und Sint:ezze wird seit vielen Jahrhunderten vorgeworfen, sich selbst nicht genug zu kümmen, zu bilden und zu verwerten. Sie werden mit der Nicht-Arbeit in Eins gesetzt und müssen als Projektionsfläche herhalten für das nicht durchkapitalisierte, »archaische Letzte« in dieser modernen und arbeitsteiligen Gesellschaft, als Projektionsfläche für Sehnsüchte der Angepassten. Sie stehen für das »freie und gute Leben«.
Wer nicht arbeitet, muss wohl kriminell sein. Heute zeigt sich das an Bildern von vermeintlichen Bettelbanden und Clans. Antiromaismus macht blind dafür, dass Rom:nja unter den gleichen kapitalistischen Bedingungen genau so hart arbeiten und wirtschaften – und trotzdem oft schlechter leben. Auf der anderen Seite wird die Nicht-Arbeit romantisiert als eine Kultur der Rom:nja mit Familie, Lagerfeuer, Musik und Freiheit. Noch immer werden sie als ein »fahrendes Volk« verklärt, obwohl die meisten Rom:nja und Sint:ezze in Deutschland in Wohnungen leben. Fehlende Sesshaftigkeit bleibt eine Facette des Antiromaismus, verbunden mit der Vorstellung sich nicht an feste Gemeinschaften und deren Regeln zu binden – nie schon da gewesen zu sein, sondern immer erst angekommen (vgl. Bauman, 1992, S. 73-88).
Während die Motive sich ändern, ist die Sinnstruktur das stabile Grundmuster der antiromaistischen Vorstellungswelt (vgl. End, 2011). Diese Welt trennt in aufgeklärte, vernunftbegabte, arbeitsame, ordentliche, weiße Staatsbürger:innen und jene, die das Gegenteil all dessen repräsentieren sollen: Unvernunft, Emotionen, Faulheit, Kriminalität, Wildheit, Unordnung, Fremdheit. Auch hier wird Projektion bedient. In »den Anderen« wird etwas ausgemacht, was man selbst verdrängt hat oder was kulturell nicht erwünscht ist. So kann die brave Bürgerin, die noch jedes Freibier mitnimmt, auf vermeintliche Schmarotzer herabblicken.
Antiromaismus ist die Sehnsucht der Mehrheitsgesellschaft nach einer verklärten Vergangenheit. Er macht Rom:nja und Sint:ezze zu den Rückständigen. Sie werden exotisiert und anspruchslos gemacht. Sie werden zum Ölgemälde einer archaischen Welt, die noch in Ordnung sei. Doch Rom:nja und Sint:ezze kämpfen in den globalen Kämpfen um Emanzipation und verharren nicht in der archaischen Welt ihres Gegenübers.